Es gibt Menschen, die behaupten, sie ekeln sich vor nichts. Ich bewundere diese Menschen. Lange Zeit glaubte ich, auch zu ihnen zu gehören. Bis meine Freundin Susanne auf die Idee kam, wir könnten doch mal nach Blossin in den Urlaub fahren.
Ihre Freundin Sybille fährt mit ihrem Mann und den Kindern jedes Jahr dorthin. In eine kleine Siedlung am Wolziger See mit lauter schnuckeligen Ferienhütten. Richtig urig sei das.
„Bungalows“, sage ich.
„Wie – Bungalows?“
„Der Wolziger See liegt im Osten und im Osten hieß das Bungalow und nicht Ferienhütte.“
„Du meinst eine Datsche?“
„Meinetwegen Datsche.“
„Na, egal! Jedenfalls hat jeder seine kleine Hütte mit Terrasse und einen wunderschönen Garten dazu. Man kann sich aus dem Weg gehen und ist trotzdem eine verschworene Gemeinschaft mit den anderen Urlaubern.“
„Das ist wichtig“, sage ich.
„Ja“, meint sie, „man sollte auch im Urlaub die sozialen Kontakte nicht vernachlässigen.“
„Ich meine, dass man sich aus dem Weg gehen kann, ist wichtig.“
Susanne ignoriert meinen Einwand. Der Urlaub war beschlossene Sache. Wenn Frauen einen Urlaubswunsch haben, wird nicht diskutiert, sondern gebucht.
Wir fuhren also mit Sack und Pack, ihrer Freundin Sybille, deren Mann und ihren beiden Kindern an den Wolziger See.
Eigentlich muss es richtig heißen, „wir fahren“ an den Wolziger See. Denn dieser Zustand dauert immer noch an. Jedes Jahr fahren wir nach Blossin. Seit sieben Jahren. Eine wirklich schöne Gegend und alles so, wie vorhergesagt. Urige Bungalows, schöner Garten und nette Nachbarn. Immer dieselben. Jahr für Jahr.
Wenn wir auf unserer Urlaubsterrasse sitzen, können wir über eine kleine Hecke die Köpfe unserer Nachbarn sehen. Lieselotte und Heinz Lübke. Zwei zuvorkommende, wirklich nette Menschen in den Siebzigern. Sie kommen schon zwanzig Jahre hierher, seit Heinz in Frührente gehen musste.
„Huhu“, begrüßt uns Lieselotte jeden Morgen, wenn sie uns sieht.
„Huhu“, rufen wir dann zurück.
Ach, wie einfach das Leben doch manchmal sein kann. Man braucht nicht viel, um sich anzunähern, ein „huhu“ reicht schon.
Lieselotte und Heinz gehören zu den Ehepaaren, wenn es sie nicht gäbe, müsste man sie erfinden. Sie halten Händchen, liebkosen und betüddeln sich, als hätten sie sich eben erst kennengelernt. Er nennt sie nach fast fünfzig Jahren Ehe immer noch Mausi und sie ruft ihn liebevoll Dickerchen. Wenn Heinz uns zum Grillen einlädt, erzählt er, wie er seine Lieselotte kennengelernt hat, damals in der schlechten Zeit.
„Hier, iss mal noch“, sagt er dann und knallt mir ein riesiges Nackensteak auf den Teller.
„Wenn ihr jungen Leute wüsstet, was Hunger ist, würdet ihr essen. Aber heute mäkeln alle nur rum, Fleisch sei ungesund. Wir wären damals froh gewesen, wenn wir so ein Würstchen gehabt hätten“, und schon platziert er mit geschicktem Griff eine Bratwurst neben das Steak.
Heinz tut so, als käme nächste Woche eine große Hungersnot. Er isst auch so. Gierig und schnell schlingt er die Fleischbatzen in sich hinein. Dabei verschluckt er sich immer wieder und röchelt und versucht den Bissen aus dem Hals wieder hervor zu würgen. Lieselotte hilft ihm dabei, indem sie ihn kräftig auf den Rücken schlägt. Ist er endlich erfolgreich, nimmt er den Bissen in seine Finger und betrachtet ihn ausgiebig.
„Den hat mir irgendeiner nicht gegönnt“, lacht er dann befreit.
Im günstigsten Fall wirft er das angekaute Stückchen mit hohem Bogen in die Hecke. Es kommt aber auch vor, dass er mit den Worten „Dem werde ich‘s zeigen“ dasselbe Stück wieder in den Mund schiebt und verschlingt. Die beiden gehen so natürlich damit um, als sei das die normalste Sache der Welt.
„Heinz, ich hol uns erst mal nen Schnaps“, sag ich immer an dieser Stelle. Und Heinz hat nichts dagegen, was mir Gelegenheit bietet, mich vom Ort des Unbehagens erst einmal zu entfernen. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob Heinz das Ganze nicht sogar inszeniert, damit ich verschwinde und den Obstler hole.
Fortsetzung folgt…